Wohnnutzung
BGH, Urteil vom 15. Juli 2022 - V ZR 127/21 - LG Landau i. d. Pfalz,
AG Neustadt a. d. Weinstraße
Gibt die Teilungserklärung einer Anlage, zu der sowohl Wohnungs- als auch
Teileigentumseinheiten gehören, innerhalb eines Gebäudes eine räumliche
Trennung von Wohnen und Gewerbe vor, stört die Wohnnutzung einer Teileigentumseinheit in dem der gewerblichen Nutzung vorbehaltenen Gebäudeteil
bei typisierender Betrachtung regelmäßig mehr als die vorgesehene Nutzung
(Fortführung von Senat, Urteil vom 23. März 2018 - V ZR 307/16, NJW-RR
2018, 1227 Rn. 9).
Tatbestand:
- Die Parteien sind Mitglieder einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE). Die Anlage besteht aus zwei Baukörpern mit 14 Einheiten (Haus A und B). Im Dachgeschoss beider Häuser befinden sich jeweils zwei Wohnungen, während die restlichen zehn Einheiten nicht zu Wohnzwecken dienen. Die Klägerin ist Eigentümerin einer Wohneinheit im Haus A, die Beklagten sind Eigentümer einer Teileigentumseinheit im Haus B. Die Gemeinschaftsordnung sieht in § 2 zur Nutzung der Einheiten Folgendes vor: „4.Wohnungen und die dazugehörigen Nebenräume dürfen nur zu Wohnzwecken benutzt werden. Die Ausübung eines Berufs oder Gewerbes in der Wohnung bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verwalters. Der Verwalter kann die Zustimmung mit Auflagen verbinden. Im Übrigen kann die Zustimmung nur verweigert werden, wenn mit der Ausübung des Berufs oder Gewerbes erfahrungsgemäß eine erhebliche Belästigung der übrigen Wohnungseigentümer/Teileigentümer oder eine erhöhte Abnutzung der im gemeinschaftlichen Eigentum stehenden Gebäudeteile verbunden oder zu befürchten ist. (…) 7. Die nicht für Wohnzwecke bestimmten, gewerblich nutzbaren Räume dürfen als Büro, Praxis, Apotheke, Kiosk, Laden oder ähnliche Zwecke genutzt werden. Die Nutzungsart muss der übrigen Nutzung des Gebäudes angepasst sein und darf durch die Art ihres Betriebs andere Wohnungs/Teileigentümer und Dritte nicht gefährden oder belästigen, sei es durch übermäßigen Lärm, Geruch, Dünste oder Unsauberkeit oder sei es durch Einbringung gesundheitsschädigender oder gefährlicher, insbesondere explosiver Gegenstände.“
- Die Beklagten betrieben in ihrer Teileigentumseinheit eine Zahnarztpraxis mit angeschlossenem Labor. Im Jahr 2018 bauten sie die Praxis zu Wohnzwecken um und informierten hierüber die Verwalterin, nicht aber die Klägerin. Seither wird die Einheit als Wohnung genutzt. Die Klägerin hat mit der im Jahr 2019 erhobenen Klage Unterlassung der Wohnnutzung verlangt. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das LG hat ihr stattgegeben. Dagegen haben sich die Beklagten mit der von dem LG zugelassenen Revision gewendet. Mit der Revisionsbegründung haben sie ein Schreiben der Verwalterin eingereicht, wonach die GdWE der weiteren Rechtsverfolgung durch die Klägerin widerspricht. Daraufhin hat die Klägerin den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Die Beklagten sind der Erledigungserklärung entgegengetreten.
Entscheidungsgründe:
- Das Berufungsgericht geht davon aus, dass die Wohnnutzung mit der
Zweckbestimmung der Teileigentumseinheit unvereinbar ist. Sie sei auch nicht
ausnahmsweise deshalb zulässig, weil sie nicht mehr störe als die vorgesehene
Nutzung. Die für eine solche Annahme erforderliche ergänzende Auslegung der
Gemeinschaftsordnung komme nicht in Betracht. Diese gebe bewusst eine räumliche Trennung der Nutzungen vor, indem sie die Wohnnutzung auf das Dachgeschoss und die gewerbliche Nutzung auf die darunterliegenden Stockwerke konzentriere, um auf diese Weise etwaige Nutzungskonflikte zu entschärfen. Zudem
werde ausdrücklich geregelt, unter welchen Voraussetzungen die Nutzung der
Wohneinheiten zu gewerblichen Zwecken erlaubt sei, während umgekehrt die
Nutzung einer Teileigentumseinheit zu Wohnzwecken gerade nicht vorgesehen
sei. Schließlich störe die Wohnnutzung bei typisierender Betrachtung mehr als
die gewerbliche Nutzung, die an Sonn- und Feiertagen regelmäßig unterbleibe.
- Die Revision der Beklagten hat mit der Maßgabe keinen Erfolg, dass auf
den Antrag der Klägerin die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache festzustellen ist. Die Erledigung der Hauptsache kann von dem Kläger im Revisionsverfahren jedenfalls dann noch einseitig erklärt werden, wenn das Ereignis, das
die Hauptsache erledigt haben soll (hier: Eingang der Revisionsbegründung mit
dem Widerspruch der GdWE), als solches außer Streit steht. Zu prüfen ist dann,
ob die Klage bis zu dem geltend gemachten erledigenden Ereignis zulässig und
begründet war und, wenn das der Fall ist, ob sie durch dieses Ereignis unzulässig
oder unbegründet geworden ist. Sind - wie hier - beide Voraussetzungen erfüllt,
ist die Erledigung der Hauptsache festzustellen; andernfalls ist die Klage abzuweisen (vgl. zum Ganzen BGH, Urteil vom 18. Dez. 2003 - I ZR 84/01, NJW
2004, 1665; Urteil vom 10. Jan. 2017 - II ZR 10/15, WM 2017, 474 Rn. 8 mwN).
- 1. Die Klage war bis zu dem Eingang der Revisionsbegründung mit dem
Widerspruch der GdWE zulässig und begründet. Die gegen das Berufungsurteil
gerichteten Angriffe der Revision haben keinen Erfolg.
- a) Die Klage war zulässig. Insbesondere konnte ein einzelner Wohnungseigentümer - wie die Klägerin - auf der Grundlage des bis zum 30. Nov. 2020 geltenden Wohnungseigentumsgesetzes von einem anderen Wohnungseigentümer oder dessen Mieter gemäß § 1004 BGB und § 15 Abs. 3 WEG aF die Unterlassung einer zweckwidrigen Nutzung des Wohnungseigentums verlangen, solange der Verband diese Ansprüche nicht an sich gezogen hatte. Zwar können entsprechende Unterlassungsansprüche seit Inkrafttreten des Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetzes am 1. Dez. 2020 gemäß § 9a Abs. 2 WEG allein von der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer geltend gemacht werden (Senat, Urteil vom 28. Jan. 2022 - V ZR 86/21, ZfIR 2022, 233 Rn. 22 ff.). Für die bei Gericht bereits anhängigen Verfahren hat der Senat aber entschieden, dass die Prozessführungsbefugnis über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fortbesteht, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs über einen entgegenstehenden Willen der GdWE zur Kenntnis gebracht wird (Senat, Urteil vom 7. Mai 2021 - V ZR 299/19, NZM 2021, 561 Rn. 12 ff.). Aus diesem Grund bestand die Prozessführungsbefugnis der Klägerin zunächst fort.
- b) Die Klage war begründet. Rechtsfehlerfrei bejaht das Berufungsgericht
einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Unterlassung der Wohnnutzung.
- aa) Entgegen der Ansicht der Revision ist die Klägerin weiterhin aktivlegitimiert, und die Beklagten sind passivlegitimiert. Zwar ist nunmehr jeder Wohnungseigentümer gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 WEG (anders als nach § 15
Abs. 3 WEG aF) gegenüber der GdWE verpflichtet, die Vereinbarungen einzuhalten (näher Senat, Urteil vom 28. Jan. 2022 - V ZR 86/21, ZfIR 2022, 233
Rn. 23). Aber ein Anspruch eines Wohnungseigentümers - wie der Klägerin - auf
Unterlassung einer zweckwidrigen Nutzung kann sich unverändert aus § 1004
BGB ergeben (vgl. Senat, Urteil vom 25. Okt. 2019 - V ZR 271/18, BGHZ
223, 305 Rn. 14 ff.; Urteil vom 28. Jan. 2022 - V ZR 86/21, aaO Rn. 24), und
ein solcher Anspruch richtet sich gegen den Störer, hier also die Beklagten. Geändert hat sich seit dem 1. Dez. 2020 gemäß § 9a Abs. 2 WEG die Ausübungsbefugnis für diese Ansprüche; nunmehr ist allein die GdWE prozessführungsbefugt und aktivlegitimiert (näher Senat, Urteil vom 28. Jan. 2022
- V ZR 86/21, aaO Rn. 24). Aber soweit die Prozessführungsbefugnis eines einzelnen Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum
ergebende Rechte geltend macht, in Anwendung des Rechtsgedankens von § 48
Abs. 5 WEG fortbesteht, ist auch die materiell-rechtliche Aktivlegitimation weiterhin gegeben (so bereits Senat, Urteil vom 28. Jan. 2022 - V ZR 86/21, aaO
Rn. 10; Urteil vom 1. Okt. 2021 - V ZR 48/21, WuM 2021, 766 Rn. 16). Der
Gesetzgeber hat mit seiner grundsätzlichen Entscheidung, bei anhängigen Verfahren das alte Verfahrensrecht weiter gelten zu lassen, zugleich aber das neue
materielle Recht zur Anwendung zu bringen, die enge Verzahnung von materiellem und formellem Recht in verschiedenen Bereichen - und so auch hier - übersehen (näher Senat, Urteil vom 25. Feb. 2022 - V ZR 65/21, WuM 2022, 299
Rn. 20).
- bb) Rechtsfehlerfrei geht das Berufungsgericht davon aus, dass die mit
der Zweckbestimmung der Teileigentumseinheit unvereinbare Wohnnutzung bei
typisierender Betrachtungsweise mehr stört als die vorgesehene Nutzung, so dass die Klägerin Unterlassung der Wohnnutzung gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2
BGB verlangen kann.
- (1) Allerdings kann sich eine nach dem vereinbarten Zweck ausgeschlossene Nutzung nach der ständigen Rechtsprechung des Senats als zulässig erweisen, wenn sie bei typisierender Betrachtungsweise nicht mehr stört als die
vorgesehene Nutzung (vgl. Senat, Urteil vom 13. Dez. 2019 - V ZR 203/18,
ZWE 2020, 180 Rn. 10; Urteil vom 16. Juli 2021 - V ZR 284/19, ZfIR 2021, 489
Rn. 27 mwN). Diese Einschränkung des Unterlassungsanspruchs ist nach den
Grundsätzen einer ergänzenden Vertragsauslegung gerechtfertigt. Eine solche
ist sowohl bei der Auslegung von Vereinbarungen der Wohnungseigentümer als
auch bei der Auslegung von einseitigen Willenserklärungen möglich, zu denen
die Teilungserklärung nach § 8 WEG zählt. Weist diese eine Lücke auf, kann sie
nach den Regeln der ergänzenden Auslegung geschlossen werden, wenn sich
bei der gebotenen objektiven Auslegung „aus sich selbst heraus“ ein bestimmter
hypothetischer Wille des teilenden Eigentümers feststellen lässt. Hierfür ist darauf abzustellen, welche Regelung der teilende Eigentümer bei einer angemessenen Abwägung der berührten Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise getroffen hätte, wenn er den von ihm nicht geregelten Fall bedacht hätte
(Senat, Urteil vom 13. Dez. 2019 - V ZR 203/18, aaO Rn. 10).
- (2) Was die Nutzung einer Teileigentumseinheit zu Wohnzwecken angeht,
kann diese sich im Einzelfall zwar als zulässig erweisen, wenn die Anlage im
Übrigen nur aus Wohnungen besteht. Denn es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass die Wohnnutzung die intensivste Form des Gebrauchs einer Sondereigentumseinheit sei; erforderlich ist stets der Vergleich der
mit der erlaubten und der tatsächlichen Nutzung in der konkreten Anlage typischerweise verbundenen Störungen (näher Senat, Urteil vom 16. Juli 2021
- V ZR 284/19, ZfIR 2021, 489 Rn. 32). Aber in einem nur beruflichen und gewerblichen Zwecken dienenden Gebäude stört die Wohnnutzung bei typisierender Betrachtung regelmäßig mehr als die vorgesehene Nutzung (vgl. Senat, Urteil vom 23. März 2018 - V ZR 307/16, NJW-RR 2018, 1227 Rn. 9). Auch dann,
wenn die Teilungserklärung einer Anlage, zu der sowohl Wohnungs- als auch
Teileigentumseinheiten gehören, innerhalb eines Gebäudes eine räumliche Trennung von Wohnen und Gewerbe vorgibt, stört die Wohnnutzung einer Teileigentumseinheit in dem der gewerblichen Nutzung vorbehaltenen Gebäudeteil bei
typisierender Betrachtung regelmäßig mehr als die vorgesehene Nutzung (zu
diesem Aspekt bereits Senat, Urteil vom 16. Juli 2021 - V ZR 284/19, aaO
Rn. 36).
- (3) Von diesen Grundsätzen geht das Berufungsgericht aus und verneint
die Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung in rechtsfehlerfreier Würdigung aller Umstände des Einzelfalls. Schon der Umstand, dass die
Ausübung eines Gewerbes in den zu Wohnzwecken dienenden Einheiten nach
der Gemeinschaftsordnung unter näher geregelten Voraussetzungen zulässig
sein kann, während der umgekehrte Fall, nämlich die Nutzung einer Teileigentumseinheit zu Wohnzwecken, gerade nicht vorgesehen ist, deutet darauf hin,
dass der teilende Eigentümer solche Nutzungen nicht zulassen wollte. Es kommt
hinzu, dass die Nutzung der Teileigentumseinheiten und das zulässige Störungspotential zwar detailliert geregelt, eine Wohnnutzung aber nicht vorgesehen ist.
Diese Gesichtspunkte sprechen für eine insoweit abschließende Regelung der
erlaubten Nutzungen und gegen die Zulässigkeit einer ergänzenden Auslegung
der Teilungserklärung (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 13. Dez. 2019 - V ZR
203/18, ZWE 2020, 180 Rn. 14). Darüber hinaus stützt sich das Berufungsgericht
auf die räumliche Trennung von Wohn- und Gewerbeeinheiten in den Gebäuden.
Nach dem in der Teilungserklärung verankerten Konzept der Anlage soll in beiden Häusern (allenfalls) im Dachgeschoss gewohnt werden, während die übrigen Gebäudeteile (nur) gewerblichen Zwecken dienen. In einer solchen gemischten,
aber räumlich getrennten Anlage haben sowohl die Teil- als auch die Wohnungseigentümer ein berechtigtes Interesse daran, dass die vorgegebene räumliche
Trennung erhalten bleibt, um etwaige Nutzungskonflikte von vornherein zu vermeiden (vgl. Senat, Urteil vom 23. März 2018 - V ZR 307/16, NJW-RR 2018,
1227 Rn. 9). Darauf kann sich die Klägerin berufen, auch wenn ihre Einheit zu
Wohnzwecken dient und in dem anderen Haus belegen ist.
- 2. Indem die Beklagten den Widerspruch der GdWE mit der Revisionsbegründung eingereicht haben, ist die zuvor zulässige und begründete Klage unzulässig geworden; die Prozessführungsbefugnis der Klägerin ist - ebenso wie ihre
Aktivlegitimation (vgl. dazu Senat, Urteil vom 28. Jan. 2022 - V ZR 86/21, ZfIR
2022, 233 Rn. 11) - entfallen. Das dem Gericht überreichte Schreiben der Verwalterin enthält einen eindeutigen Widerspruch gegen die weitere Prozessführung. Auf die Wirksamkeit der Willensbildung im Innenverhältnis kommt es nicht
an (näher Senat, Urteil vom 28. Jan. 2022 - V ZR 106/21, NJW-RR 2022, 664
Rn. 21 f.). Der von den Beklagten vorgelegte Widerspruch der GdWE ist auch im
Revisionsverfahren zu beachten (vgl. Senat, Urteil vom 28. Jan. 2022 - V ZR
86/21, aaO Rn. 11). Zu Recht weist die Revisionserwiderung zwar darauf hin,
dass es für das (auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfende) Bestehen oder Fehlen der Prozessführungsbefugnis grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ankommt (vgl. Senat, Urteil
vom 14. Dez. 1959 - V ZR 197/58, BGHZ 31, 279, 283; BGH, Urteil vom
19. März 1987 - III ZR 2/86, BGHZ 100, 217, 219 mwN). Hier ist es aber deshalb
anders, weil die materiell-rechtlichen Änderungen durch das Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetz in Ermangelung von Übergangsvorschriften sofort
gelten und diese Gesetzesänderung auch in der Revisionsinstanz beachtlich ist
(vgl. Senat, Urteil vom 7. Mai 2021 - V ZR 299/19, NZM 2021, 561 Rn. 6). Die
Prozessführungsbefugnis wäre deshalb an sich selbst in dritter Instanz ohne weiteres entfallen; nachdem der Senat ihren Fortbestand in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG anerkannt hat, muss sich im Gegenzug die
andere Partei noch in der Revisionsinstanz auf einen Widerspruch der GdWE
berufen können.
- Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.